Benedikt Dertinger: „Unser Leben mit kleineren Sinneinheiten versehen“

Meine These lautet dass sich unser Lebenssinn durch das Erfahren „kleinerer
Sinneinheiten“ im aktiven Schaffen und Erleben im Alltag in einem größeren Zusammenhang konstituiert und diese sich wechselseitig beeinflussen.

Beginnen möchte ich mit der Betrachtung des Alltags, da dies nach meiner These auch die
Voraussetzung für den Lebenssinn bildet. Um hier eine metaphorische Analogie zu schaffen, möchte ich mich auf den Flow-Moment von CSIKSZENTMIHALYI (1990) beziehen. Diesen Flow-Moment erlebe ich nahezu täglich in meiner Arbeit als Programmierer und Mediendesigner. Es ist dabei nicht möglich den Moment selbst zu provozieren – im Gegenteil – erst durch ein Sich-Fallen-Lassen und Fokussieren auf die Ausübung kann der Moment quasi unerwartet und selbstvergessen auftreten. Die Analogie für CSIKSZENTMIHALYIS Flow-Moment mit sehr spezifischen Anforderungen an eine Tätigkeit lässt sich für mich (ohne hier neben meinen eigenen, konkrete empirische Nachweise erbringen zu können) durchaus in anderer Intensität und/oder Form auch im
sozialen Erleben erfahren (bspw. in einem angeregten Gespräch). Nach diesem Moment erlebe ich das Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit – der Moment gibt meinem Erleben und Tun einen Sinn aus der Situation heraus, und ich gestalte ihn aktiv: „Optimal experience is thus something we make happen“ (ebd., S. 3). Die Verknüpfung sehe ich hier mit FRANKLS (1997) Position zur Jagd nach dem Glück, das eben nicht er-zielt werden kann, sondern er-folgen muss. Nach ihm sollen wir unser Leben nicht explizit auf das Erleben von Glück (und im weiteren auch Sinn) fokussieren, sondern dieses als eine Nebenwirkung erfahren. Der subjektive Grund kann hierbei vielfältiger Gestalt sein und aus ihm leite ich meine Teilschritte ab, bzw. adaptiere den subjektiven Grund anhand der Erkenntnisse und Erlebnisse aus dem Alltag. Das Schöne an dieser Analogie sehe ich in
der Brücke zu FRANKLS drei Wegen zum Sinnerleben: der Verwirklichung von  schöpferischen Werten (meine Arbeitstätigkeit), Erlebniswerten (mein soziales Erleben) und Einstellungswerten.

Auch der dritte Aspekt FRANKLS, die Einstellungswerte, lässt sich für mich auf mein Leben übertragen, indem ich subjektive Gründe für mein Handeln aus höheren, mich selbst übersteigenden weltlichen Zielen oder Werten ableite. Hierbei ist für mich nun entscheidend, dass sich der Sinn meines Erachtens nach nicht nur durch das Bestehen von Einstellungswerten allein, sondern vielmehr durch das aktive Anwenden von Einstellungswerten im Schaffen oder Erleben des Alltags ergibt. Es geht also um das Er-Leben der Werte im Alltag, um diese wiederum zu beeinflussen und hierdurch Sinn in kleinen Einheiten und im Übergreifenden zu schaffen.
Wie auch CAMUS lehne ich eine höhere Macht und seine sogenannten unzulässigen Sprüngen (saut) ins Transzendente ab (1959, S. 33). Dies ermöglicht es meiner Meinung nach für eine Kirchgängerin trotz alledem in die Kirche zu gehen, an Gott zu glauben, zu beten und dabei einen Sinn zu erleben, jedoch nicht aus Gott, sondern aus dem aktiven Erleben der Werte selbst heraus (entscheidend ist hierbei nicht, ob es Gott gibt oder nicht: Es geht darum aktiv zu glauben). Ich denke auch nicht, dass der Sinn, wie bei FRANKL, in der Welt vorhanden ist und es gilt diesen zu erkennen, sondern, dass wir den Sinn erzeugen durch unser Tun und Sein. Und so gibt es für mich bei CAMUS den Sinn, jedoch nicht durch höhere Instanzen oder Mächte vergeben oder gar in der Welt wartend, sondern viel mehr einen Sinn durch unser Dasein, unsere Tätigkeit und Auseinandersetzung mit unseren Mitmenschen (wobei CAMUS die Letzteren nicht explizit anführt).

CAMUS und FRANKL fordern auf im Hier und Jetzt zu sein, zu leben und zu schaffen. Bei CAMUS unter dem Aspekt des hoffnungslosen Sich-Abfindens, bei FRANKL mit der Hoffnung Sinn zu finden. Ich meine, dass diese Standpunkte sich verbinden lassen: In der Annahme, dass es keinen göttlichen Sinngeber gibt nach dem es lohnt zu suchen, gleichzeitig wir in dieser Hoffnungslosigkeit durch subjektive Gründe (Einstellungen, Ideale etc.) unser Leben mit kleineren Sinneinheiten versehen und im Wechselspiel wieder einen übergeordneten Lebenssinn schaffen indem wir die subjektiven Gründe aktiv ausleben. Für arbeits- und organisationspsychologische Ansätze würde ich hieraus ableiten, dass vor allem wechselnde Tätigkeiten mit der Chance auf eigenverantwortliche, vor allem kreative Prozesse und Raum für ein aktives Miteinander geschaffen werden sollten. Für therapeutische und beraterische Ansätze würde die Arbeit mit Materialien und das Wechselspiel mit anderen Menschen (bspw. in der Systemischen Therapie) in den Vordergrund rücken und der Fokus nicht dauerhaft auf die „Problemstellung“ der Klient*innen gerichtet werden, sondern viel mehr auf das Anwenden und Ausüben möglicher Handlungen und kreativer Prozesse. So könnte beispielsweise bei Klient*innen
mit depressiver Symptomatik der Fokus von Gedanken der fehlenden Sinnhaftigkeit zum Erleben kleinerer Sinneinheiten im Miteinander oder im Rahmen kreativer Schaffensprozess gelegt werden (bspw. das Malen eines Bildes). So könnte die Tätigkeit selbst gegebenenfalls sogar zu einem Art Flow-Moment führen indem die getrübte Alltagsrealität in den Hintergrund rückt und der Moment selbst im Zentrum steht. Sollte dies realisierbar sein, so könnte sich ein neuartiger Sinn durch die Tätigkeit selbst konstituieren und das Bedürfnis des Wiedererlebens begünstigen.

Literatur
Camus, A. (1959). Der Mythos des Sisyphos – Ein Versuch über das Absurde. Hamburg: Rowohlt.
Csikszentmihalyi, M. (1990). Flow: The Psychology of Optimal Experience. New York, NY: Harper and Row.
Frankl, V. (1997). Der Wille zum Sinn: Ausgewählte Vorträge über Logotherapie (4. Aufl.).
München: Piper.

 

 

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