Hochbegabte Erwachsene – Was die Forschung weiß

Rinn, A. N. & Bishop, J. (2015). Gifted Adults: A Systematic Review and Analysis of the Literature. Gifted Child Quarterly, 59(4), 213-235.

In der Begabungsförderung liegt der Fokus vor allem auf der Potentialentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Doch wie ergeht es diesen hochbegabten Individuen im Erwachsenenalter? Und unterscheiden sich hochbegabte Erwachsene überhaupt von der Durchschnittsbevölkerung? Jein! Neben populärwissenschaftlichen Medien gibt es nur wenig empirische Forschung zu den Eigenschaften, Bedürfnissen und dem Wohlergehen von hochbegabten Erwachsenen. Dies erscheint als sehr verwunderlich, da doch gerade das Erwachsenenalter jene Periode darstellt, in welcher offenbart wird, ob Talentförderung Früchte trägt. Deshalb ist der Artikel von den Autoren Rinn und Bishop als sehr interessant einzustufen. Mittels einer systematischen Analyse der aktuellen wissenschaftlichen Hochbegabtenliteratur haben die Autoren versucht, einen Überblick über Charakteristika, Erfahrungen und Bedürfnissen von hochbegabten Erwachsenen zu geben. Die wichtigsten Erkenntnisse werden nachfolgend erläutert:

  • Wird aus einem hochbegabten Kind automatisch ein hochbegabter Erwachsener?

IQ Werte sind relativ stabil über die Lebensspanne hinweg. Somit kann damit gerechnet werden, dass ein hochbegabtes Kind zu einem hochbegabten Erwachsenen heranwächst. Wobei eine Klassifizierung als hochbegabt kritisch hinterfragt werden sollte: Immerhin können ca. 25% der diagnostizierten Hochbegabungen im Kindesalter als Fehldiagnosen eingestuft werden. Eine weitere interessante Frage ist, ob jedes hochbegabte Kind sein Potential auch im Erwachsenenalter voll ausschöpfen und herausragende Leistung zeigen wird? Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden. Hochbegabung kann zwar als Prädiktor für eine überragende, kreative Leistungsbereitschaft angesehen werden, die zu Erfolg und Wohlstand führen kann, ist aber nicht zwingend ein Garant dafür. Einflussfaktoren wie das sozioökonomische Umfeld, Lebensumstände, persönliches Durchsetzungsvermögen, Zielstrebigkeit, sowie Glück und Zufall sollten bei dieser Frage miteinkalkuliert werden – egal ob es sich um ein hochbegabtes Individuum oder um einen ‚Normalo‘ handelt.

  • Charakteristika und Wohlbefinden von hochbegabten Erwachsenen

Folgende Adjektive werden häufig zur Beschreibung von Hochbegabten verwendet: analytisch, einsam, emotional, empathisch, gerechtigkeitsliebend, humorvoll, individualistisch, introvertiert, missverstanden, moralisch, perfektionistisch, scharfsinnig, sensibel, sinnorientiert, sonderbar, werteorientiert, zielstrebig, …

Doch nur wenige dieser Charakteristika konnten bis dato tatsächlich empirisch belegt werden. Beispielsweise zählt die höhere emotionale Empfindlichkeit bzw. Übererregbarkeit dazu. Eine der bekanntesten Längsschnittstudien ist Terman’s Studie über Hochbegabte (1926). Diese Studie kann deshalb als Pionierarbeit angesehen werden, da sie erstmals widerlegte, dass hochbegabte Kinder kränklicher und ‚anders‘ als die Durchschnittsbevölkerung sind. Laut weiteren Befunden verfügen Hochbegabte meist über ein gesteigertes Selbstwertgefühl, welches wiederum in genereller Lebenszufriedenheit münden kann. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich die Individuen mit ihren besonderen Fähigkeiten und Talenten bereits angefreundet und diese in ihr Identitätskonzept integriert haben. Manche Studien belegen einen positiven Zusammenhang von Intelligenz und Wohlbefinden. Andere wiederum postulieren, dass Hochbegabte weder glücklicher noch unglücklicher sind als die Durchschnittsbevölkerung.

  • Herkunftsfamilie und Partnerwahl

Hochbegabte stammen eher aus kleinen Herkunftsfamilien. Ihr Bildungsniveau und jenes der Eltern sind meist relativ hoch. Studienbefunde lassen darauf schließen, dass bei zwei Dritteln der Hochbegabten auch ein Elternteil als hochbegabt klassifiziert werden kann. Mehr als die Hälfte der hochintelligenten Individuen promoviert. In Summe weist die wissenschaftliche Literaturanalyse darauf hin, dass eine ausgewogene Balance zwischen harmonischem Elternhaus, unterstützender Umgebung in der Kindheit, aber auch Konflikte und kritische Lebensereignisse mitsamt deren Bewältigungsprozessen zur Potentialentfaltung im Erwachsenalter beitragen. Vor allem Förderung, Unterstützung, Wertschätzung und intellektuelle Stimulation durch wichtige Bezugspersonen wirken sich besonders positiv auf die weitere Entwicklung aus. Diese Ergebnisse unterstreichen die Wichtigkeit von Hochbegabungsförderung während der Kindheit und den daraus resultierenden Nutzen im Erwachsenenalter.

Zum Thema Partnerwahl kann angemerkt werden, dass sich Hochbegabte eher von Gleichgesinnten angezogen fühlen. Intelligenz korreliert bei Ehepartnern zu r = .37. Die Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Hochbegabte mit einem ebenfalls hochbegabten Ehepartner zufriedener mit Ehe und Leben sind. Dies ist aber nur bis zum 33. Lebensjahr der Fall, danach ist der Befund nicht mehr haltbar. Hochbegabte bekommen generell weniger Nachwuchs als die Durchschnittsbevölkerung.

  • Karriere

Durch die Vielfältigkeit von Interessen, Potentialen und Stärken könnten Hochbegabte in vielerlei Bereichen erfolgreich sein. Deshalb ist die Auswahl eines geeigneten Karriereweges wohl eine der größten Herausforderungen für diese Bevölkerungsgruppe. Bezogen auf den Zusammenhang von kognitiver Leistungsfähigkeit und Karriereaspekten gibt es zwiespältige Meinungen in der Forschung. Manche Autoren postulieren, Intelligenz sei ein Prädiktor für Erfolg in Ausbildung und Beruf, andere wiederlegen dies. Im Großen und Ganzen sind Hochbegabte am glücklichsten mit ihrer Karriere, wenn sie in einer Führungsposition oder aber auch selbstständig sind und über ausreichend Autonomie im Beruf verfügen. Gerade für hochintelligente Personen ist es im Beruf wichtig:

  • die eigenen Interessen ausleben zu können,
  • die eigenen Fähigkeiten und das innehabende Expertenwissen aktiv einsetzen zu können,
  • Vergnügen bei der Arbeit zu erleben
  • und eine gute Atmosphäre im Team zu verspüren.

Hinsichtlich der Arbeitspräferenzen konnten auch Geschlechterunterschiede festgestellt werden. Hochbegabte Frauen legen ab dem 35. Lebensjahr viel Wert auf eine flexible Arbeitsgestaltung, Arbeitszeitreduktion und den Wunsch nach freien Wochenenden. Bei Männern trifft meistens das Gegenteil zu.

Es scheint als hätten hochbegabte Frauen mit Kindern die höchste Lebenszufriedenheit, gefolgt von Männern mit Kindern. Frauen ohne Kinder weisen hingegen die geringste Lebenszufriedenheit auf. Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Balance von Karriere und Familie auch für Hochbegabte einen sehr wichtigen Stellenwert hat.

Fazit: Hochbegabten gegenüber gibt es viele Vorurteile – positive wie negative -, wobei nur wenige auch wissenschaftlich haltbar sind. Um die Bedürfnisse und Charakteristika dieser Bevölkerungsgruppe besser verstehen zu können, ist weitere Forschung notwendig. Deshalb beschäftigt sich unser Team momentan mit dem Projekt ‚Sinnerleben bei Hochbegabung‘ mit dem Fokus auf erwachsene Hochbegabte. Wir hoffen damit eine dieser Forschungslücken füllen zu können. Erste Studienergebnisse können Sie auf dieser Seite bereits nachlesen.

PS: Falls Sie hochbegabt sind und den Austausch mit Gleichgesinnten suchen, gibt es beispielsweise den Hochbegabtenverein Mensa (Voraussetzung für eine Mitgliedschaft ist ein IQ von mindestens 130) und die Mega Foundation (bei der die Mitglieder einen IQ von mindestens 164 aufweisen).

 

Von Bernadette Vötter

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