Stefan Kary: „Größtmögliche Freiheit durch die Annahme des Absurden“

Das Thema Glaube und Religion hat mich persönlich in meinem Leben sehr oft beschäftigt. Dies liegt vermutlich zu großen Teilen daran, dass ich in einer relativ streng katholischen Familie aufgewachsen bin. Ich glaube, bis zu einem gewissen Punkt nimmt man den vorgelebten Glauben der direkten Bezugspersonen einfach an. Erst wenn man beginnt als Jugendlicher die Eltern und die Welt um einen herum zu hinterfragen kann man sich überhaupt erst wirklich mit einem solch abstrakten Konstrukt wie „Glaube“ auseinandersetzen.

Dawkins schlägt eine Skala vor, auf der er die Einstellungen einzelner Menschen zum Glaube an einen Gott kategorisiert. Diese Skala geht von einer starken theistischen Einstellung bis zu einer starken atheistischen Einstellung. Persönlich würde ich mich zu der Gruppe der de facto Atheisten zählen. Aus rein rationaler und wissenschaftlicher Sicht kann man diese meiner Meinung nach auch am ehesten verteidigen und begründen. Es gibt es keinen handfesten Beweis oder auch nur einen Hinweis, dass es eine höhere Macht in unserem Universum gibt. Im Grunde weist der Werdegang der Wissenschaft eher in die entgegengesetzte Richtung. Religion hatte von den Anfängen der Menschheit bis zur Renaissance für die meisten Menschen einen greifbaren und wichtigen Sinn: Das Erklären und Verstehen ansonsten unvorstellbarer Vorgänge in der Natur. Ein Bauer im Mittelalter, der sich fragt, warum die Ernte dieses Jahr so schlecht ausgefallen ist, kann den Grund nur mit Gott in Verbindung gebracht haben, da ihm keine weit verbreiteten und wissenschaftlich fundierten Theorien im Bereich der Meteorologie oder Agrarwissenschaften zur Verfügung standen. Im Gegensatz dazu gibt es heute für die meisten Naturphänomene gut fundierte physikalische Erklärungen oder zumindest wissenschaftliche Theorien. Trotzdem kann man meiner Meinung nach die Existenz irgendeiner höheren Macht nie zu 100% ausschließen, weshalb ich die de facto atheistische Sichtweise am ehesten unterstützen würde.

Im Gegensatz zu Dawkins würde ich allerdings nie auf seine Art und Weise gegen Gläubige hetzen, die ihre Religion im privaten Rahmen friedlich ausleben, ohne ihre Mitmenschen zu stören. Ich bin mir sicher, dass der Glaube an eine höhere Macht für viele Menschen ein wichtiger Anker in schweren Zeiten sein kann. Daher halte ich es für schon fast grausam mit diesem Gedanken im Hinterkopf gläubige Menschen als dumm und naiv zu verurteilen. Ich denke es gibt eine Tendenz bekannter atheistischer Persönlichkeiten den Glaube an etwas Größeres pauschal ins Lächerliche zu ziehen und systematisch auseinander zu nehmen. In diesem Bezug halte ich Viktor Frankls Sicht zum Reduktionismus für bedenkenswert. Er beschreibt, dass wir in unserer westlichen Gesellschaft zu sehr darauf fokussiert sind, alles auf seine Einzelteile zu reduzieren. Das Problematische daran ist laut Frankl, dass dieses permanente Analysieren zu einer generellen Entwertung des untersuchten Objekts führt. Frankl setzt sich in dem Textauszug dafür ein, dass es eine Grenze für das wissenschaftliche Analysieren und Entlarven gibt: das Menschliche. Genau diese Extremformen des Analysierens und Entlarven im Sinne eines eher aggressiven Atheismus, wie zB. Dawkins ihn vertritt, überschreiten meiner Meinung nach diese Grenze. Laut Frankl braucht der Mensch einen Grund um glücklich zu sein. Glück als Ziel ist nicht erreichbar, sondern nur als Nebenprodukt von Sinn. Wenn bei spirituellen Menschen der Glaube Sinn und Glück im Leben vermitteln kann, wer hat dann das Recht ihnen diesen Sinn zu nehmen? Wem würde das nützen? Daher gehen Atheisten wie Dawkins auf ihrem „Kreuzzug“ für Rationalität und Wahrheit meiner Meinung nach entschieden zu weit, wenn sie den persönlichen Glauben der Menschen angreifen.

In der psychologischen Praxis wäre es trotzdem wichtig, den Menschen, die an ihrem Glauben zu zweifeln beginnen und in diesem Zustand der Sinnkrise einen Therapeuten aufsuchen, auch Alternativen bieten zu können. Persönlich interessant finde ich den Ansatz von Camus, der an dieser Stelle relevant ist. Der Kern seiner Idee ist das Absurde. Das Absurde ist der Zustand des verzweifelten Suchens des Menschen nach Sinn und Bedeutung in der Welt, demgegenüber die absolute Indifferenz des Universums steht (Camus, 1942). Aus dieser Erkenntnis zieht Camus drei mögliche Konsequenzen: Selbstmord, philosophischer Selbstmord und die Annahme des Absurden. Philosophischer Selbstmord ist dabei für ihn der Glaube an eine höhere Macht, und die Annahme des Absurden wäre seine eigentliche „Lösung“ der Situation. Durch die Annahme des Absurden befreit sich der Mensch von religiösen und moralischen Zwängen und kann dadurch die größtmögliche Freiheit im Leben erlangen. Diese philosophische Sichtweise auf Glaube und Sinn könnte man mit der eher naturwissenschaftlichen Sichtweise Dawkins‘ verbinden, um Menschen eine Alternative zum Glaube zu bieten. Im Rahmen von einer existenziellen Psychotherapie (Yalom, 2010) sind Fragen zum Glaube am ehesten mit der Frage nach dem Sinn des Lebens verknüpft. Auch Yalom betont, dass es besonders wichtig ist eine freundschaftlich-begleitende Beziehung zum Patienten aufzubauen, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der man sich über diese sehr persönlichen existenziellen Fragen austauschen kann. Eine anklagende und verurteilende Position, wie sie nach außen hin von Dawkins vertreten wird, würde in einem psychologischen Setting ohne Frage nur Schaden anrichten.
Literaturverzeichnis
Camus, A. (1942). Der Mythos des Sisyphos. Hamburg: Rowohlt.
Dawkins, R. (2016). Der Gotteswahn. Berlin: Ullstein Taschenbuch Verlag.
Frankl, V. (1997). Der Wille zum Sinn: Ausgewählte Vorträge über Logotheraphie (4. Aufl.). München: Piper.
Yalom, I. D. (2010). Existenzielle Psychotheraphie. Bergisch Gladbach: Edition Humanistische Psychologie

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