Sinnquellen und Selbstbild bei sozioökonomisch benachteiligten Jugendlichen

To, S. M., Tam, H. L., Ngai, S. S. Y., & Sung, W. L. (2014). Sense of meaningfulness, sources of meaning, and self-evaluation of economically disadvantaged youth in Hong Kong: Implications for youth development programs. Children and Youth Services Review, 47, 352-361.

Wir alle waren einmal im jugendlichen Alter und wissen, dass diese Zeit im Leben eine aufregende, aber auch nicht einfache Zeit ist. Man versucht seine eigene Identität und sein eigenes Selbst zu entwickeln und stellt sich Fragen wie: wer bin ich, an was glaube ich und wie möchte ich eigentlich leben? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen bedeutet häufig auch eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn des (eigenen) Lebens – bei uns in Europa ebenso wie in China.

In Hong Kong leben 24% (circa 280.000) der sechs- bis 24-Jährigen in sozial benachteiligten Familien. Die hier dargestellte Untersuchung betrachtet, wie einerseits Sinnerleben und andererseits Sinnquellen von dieser Jugendlichen mit deren Selbsteinschätzung zusammenhängen. Letztendlich sollen die Befunde dazu dienen, effektive Präventionsprogramme und politische Maßnahmen zu initiieren, von denen sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche profitieren könnten.

Sinnquellen können verstanden werden als Wertorientierungen, deren Umsetzung mit Sinnerfüllung einhergeht. Die Autoren dieser Studie unterscheiden zwischen den folgenden Sinnquellen:

  • Selbstbezogen: Materialismus, Hedonismus
  • Individualistisch: Persönliches Wachstum und Erfolg
  • Kollektivistisch: Gesellschaftliche, politische, humanistische Anliegen
  • Selbsttranszendent: Naturverbundenheit, Religiosität

Selbstbezogene Sinnquellen werden als niedrigste Stufe der Sinnquellen angesehen. Sie beziehen sich auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse und hedonistisches Vergnügen. Individualismus ist die zweite Stufe und fokussiert auf die Realisierung und Verwirklichung der eigenen Potentiale. Die nächste Ebene ist der Kollektivismus, der eine Zuwendung zu gesellschaftlichen Problemen und die Verbesserung der Gemeinschaft meint. Die höchste und letzte Stufe ist die Selbsttranszendenz. Diese Sinnquelle bedeutet, dass man die eigenen Grenzen überschreitet hin auf ein größeres Ganzes.

Sinnerleben ist das Ausmaß, in dem Menschen ihr Leben als bedeutsam, kohärent, zugehörig und zielgerichtet empfinden. Es wird vermutet, dass sowohl das Verfolgen von Sinnquellen wie auch das Sinnerleben gewinnbringend für die Entwicklung in der Jugend sind. Zudem fokussiert diese Studie auf die Selbsteinschätzung der Jugendlichen. Damit ist gemeint, wie bewusst Menschen über sich selbst reflektieren und die eigenen Charakteristiken bewerten können. Hier wurden zwei allgemeine Dimensionen der Selbsteinschätzung, nämlich das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit betrachtet. Das Selbstwertgefühl kann verstanden werden als Einschätzung des eigenen Selbstwertes. Selbstwirksamkeit ist der Glaube eines Individuums an die eigene Fähigkeit einen beabsichtigten Effekt zu erzeugen oder etwas zu verändern.

Aus der bisherigen Forschung ist bekannt, dass eine positive Selbsteinschätzung einen tiefgreifenden Einfluss auf die Identitätsbildung und die resultierenden Gedanken, Emotionen und das Verhalten hat. Außerdem konnte gezeigt werden, dass Jugendliche, die unter schlechten sozioökonomischen Bedingungen leben, eher dazu neigen eine negative Selbsteinschätzung aufzuweisen, was beispielsweise ihre schulischen Leistungen, die Teilnahme an schulischen Aktivitäten und die mentale Gesundheit beeinträchtigen kann.

Anhand einer Stichprobe von 373 Schülern aus gering verdienenden Haushalten in Hong-Kong wurde die vorliegende Untersuchung durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Sinnerleben und der Selbsteinschätzung, also Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit besteht. Je mehr Sinn ein Mensch in seinem Leben empfindet, desto höher sind also auch sein Selbstwertgefühl und sein Gefühl der Selbstwirksamkeit.

Außerdem konnte ein positiver Zusammenhang der individualistischen, kollektivistischen und transzendenten Sinnquellen mit dem Selbstwertgefühl, aber nicht mit der Selbstwirksamkeit festgestellt werden. Interessant ist, dass die selbstbezogenen Sinnquellen überhaupt nicht in Zusammenhang mit der Selbsteinschätzung standen. Auch bei sozial benachteiligten jungen Menschen geht ein materielles und hedonistisches Streben also nicht mit Sinnerfahrung einher, wie die Autoren betonen.

Desweiteren konnte gezeigt werden, dass Selbstwirksamkeit vor allem dann hoch ausgeprägt ist, wenn Individualismus (persönliche Entwicklung) als sinnstiftend erlebt wird. Jugendliche, die der individualistischen Sinnquelle mehr Wert zusprachen, berichteten auch eine höhere Selbstwirksamkeit als Jugendliche, die dieser Sinnquelle weniger Wert zusprachen.

Die Ergebnisse wiesen darauf hin, dass das tatsächliche Sinnerleben eines Menschen letztendlich ein stärkerer Prädiktor für ein positives Selbstbild ist, als das Vorhandensein von verschiedenen Sinnquellen. Wichtig ist auch zu betonen, dass die Art der Sinnquellen eine große Rolle spielt. So hat eine Sinnquelle, die sich auf die Realisierung und Verwirklichung der eigenen Potentiale fokussiert, im Zusammenspiel mit Sinnerleben einen positiven Einfluss auf das Gefühl der Selbstwirksamkeit der Jugendlichen. Sinnerleben und der Zugang zu einer individualistischen Sinnquelle helfen Menschen womöglich dabei, Kontrolle über ihr Leben wahrzunehmen. Diese wiederum kann dazu motivieren, Herausforderungen anzunehmen, die mit Erfahrungen der Selbstwirksamkeit einhergehen.

Genauso kann man vor allem hinsichtlich der hier untersuchten Stichprobe davon ausgehen, dass die selbsttranszendente Sinnquelle noch keine so große Rolle spielt. Denn gerade Jugendliche in diesem Alter sind stark mit sich selbst beschäftigt, und es fällt ihnen womöglich schwer ihren Fokus auf das Überschreiten der eigenen Grenzen zu richten. Außerdem sollte man beachten, dass es sich hierbei um sozioökonomisch benachteiligte junge Menschen handelt, also eine Randgruppe der Gesellschaft, die gelernt hat sich, dass sie für ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen. So ist in ihrem Leben womöglich wenig Raum für kollektivistische Sinnquellen – obwohl der Kollektivismus gerade in der Kultur Chinas eine große Bedeutung hat.

Aus den Ergebnissen dieser Untersuchung lässt sich schließen, wie wichtig es ist, in der Förderung von Jugendlichen dem existentiellen Sinn mehr Bedeutung zu geben. So können sie reichere und tiefere Erfahrungen machen hinsichtlich der persönlichen Entwicklung, der Verbesserung von Beziehungen, der Teilnahme in der Gemeinschaft und der spirituellen Perspektive. Auch der Selbstwert erfährt dadurch eine Verstärkung, und eine höhere Selbstwirksamkeit fördert einen mutigen Blick auf sich selbst und das eigene Leben.

Zusammengefasst von Miriam Böhmer

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