Selbsttranszendenz: Die vergessene sechste Stufe von Maslows Bedürfnispyramide

Venter, H.J. (2016). Self-Transcendence: Maslow’s Answer to Cultural Closeness. Journal of Innovation Management, 4, 3-7.

 

Abraham Maslow gilt als einer der einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts und als einer der Begründer der Humanistischen Psychotherapie. Sein bekanntestes Werk ist die Bedürfnispyramide, die meist als fünfstufiges, hierarchisches System dargestellt wird, um die grundlegenden menschlichen Motive und Bedürfnisse zu beschreiben. Aufeinander aufbauend lauten die von Maslow postulierten Bedürfnisse:

  1. Grund- und Existenzbedürfnisse (z.Bsp.: Wärme, Nahrung, Schlaf…)
  2. Sicherheitsbedürfnisse
  3. Sozialbedürfnisse
  4. Anerkennung und Wertschätzung
  5. Selbstverwirklichung

Hierzu lautet Maslow’s Theorie, dass die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt sein müssen, um das Überleben zu sichern, während die höheren Bedürfnisse dem persönlichen Wachstum und der Potentialentfaltung dienen.

In den Darstellungen seines Werks wird jedoch meist übergangen, dass Maslow zu späterem Zeitpunkt seine Bedürfnispyramide um eine sechste Dimension erweitert hat, wie Venter (2016) ausführt. Speziell in Erweiterung des Selbstverwirklichungsbegriffs wählte Maslow den Begriff Selbsttranszendenz, um das menschliche Potential zu beschreiben, über die Grenzen der eigenen Geschichte, Kultur und Umgebung hinaus ein gemeinsames Bewusstsein mit anderen Menschen zu teilen. Während Selbstverwirklichung als sehr persönliches und individualistisches Bedürfnis nach Entwicklung und Entfaltung interpretiert werden kann, spricht Maslow mit Selbsttranszendenz explizit das menschliche Bedürfnis nach einem Sinn jenseits der individuellen Entwicklung an.

Eine gesunde und voll entfaltete Person habe demnach die Grenzen dichotomen und kulturell geprägten Denkens überwunden. Das bedeutet, dass die Einteilung der Welt in Kategorien wie „Du und Ich“, „Gut und Böse“ oder „Richtig und Falsch“ überwunden wird und somit die klaren Grenzen des Selbst transzendent werden, da sich die Person vielmehr als verbunden mit der ungeteilten Welt fühlt. Dies bedeutet jedoch nicht eine Verleugnung der prägenden Kultur sondern vielmehr eine Bewusstwerdung und ein Loslösen von kulturellen und biografischen Prägungen und Schubladendenkens. Dies ermögliche einer selbsttranszendenten Person kategorisierendes, urteilendes und stereotypisierendes Verhalten abzulegen. Sie versteht ihr Streben im Sinne des größeren Ganzen, anstatt die persönliche Bedürfniserfüllung in den Vordergrund zu stellen. Dies führe laut Maslow auch zu einem besonders starken Gefühl von Sinnerfüllung im Leben. Menschen, die Maslow als selbsttranszendiert beschrieben hätte, zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre persönlichen Bedürfnisse hintanstellen und stattdessen ein hohes Engagement für andere zeigen und einen höheren Sinn oder ein höheres Ziel jenseits des persönlichen Selbst anstreben.

Die Erweiterung des Konzepts weist auf ein fundamentales, menschliches Bedürfnis – oder Potential – hin. Durch die Überwindung kultureller Grenzen und Identifizierung mit dem All-Einen hat jeder Mensch die Möglichkeit, sich von den allgegenwärtigen Urteilen und Bewertungen zu lösen und somit einen Schritt in eine friedlichere Welt zu machen. Durch die Einführung dieser sechsten Stufe bietet Maslow eine theoretische Möglichkeit an, menschliches Denken und Handeln jenseits individueller Bedürfniserfüllung und Nutzenmaximierung zu verstehen. Im Gegensatz zu Selbstverwirklichung geht es hierbei auch nicht mehr primär um die persönliche Entwicklung eines Menschen, sondern um die Identifizierung mit der gemeinschaftlichen, ganzheitlichen Entwicklung der Welt.

Dieses Verständnis der Welt wird in Zeiten der Globalisierung und weltweiten Vernetzung immer besser nachvollziehbar. Bei der Bewältigung globaler Herausforderungen wie Armut, Krieg oder Klimawandel braucht es laut Venter (2016) besonders dringend selbsttranszendente Menschen, die nicht nur die Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse verfolgen, sondern vielmehr auch im Sinne der Bedürfnisse anderer und der Entwicklung der Welt als Ganzes handeln.

 

Text von Herbert-Konstantin Dietrich

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