Wege zum Sinn. Sinnfindung mit und ohne Religion

Schnell, T. (2004). Wege zum Sinn. Sinnfindung mit und ohne Religion – Empirische Psychologie der Impliziten Religiosität. Wege zum Menschen, 56, 3-20.

Zusammengefasst von Simone Schmit:

74 Personen aus Deutschland mit vielfältigen religiösen Hintergründen wurden interviewt um einen Überblick über die Inhalte und Arten von impliziter Religiosität zu bekommen. Unabhängig davon, was man im Allgemeinen unter Religiosität versteht, wurden die Befragten gebeten, ihre persönliche Religiosität zu beschreiben.

Sechs Ausprägungen konnten unterschieden werden.

  1. 23% der Befragten beschrieben ihre persönliche Religiosität als Kontingenzbewältigung – „Dass ich nicht alleine dastehe, dass Gott bei mir ist, dass ich behütet, beschützt bin, Hilfe bekomme“
  2. 18% der Interviewten verstehen unter persönlicher Religiosität die Wahrnehmung einer All-Einheit von allem – „Verbundenheit mit der Welt, mit dieser Energie, man ist nicht allein als Mensch da. Sondern man gehört zu einer Gemeinschaft“
  3. 12% der befragten Personen definieren ihre persönliche Religiosität als ein Urvertrauen – „Ein großes Daseinsvertrauen, eine Getragenheit, die mir Geborgenheit gibt ohne dass ich etwas dafür geleistet hätte…“
  4. Für 11% der Befragten steht der Glaube an Gott im Mittelpunkt – „An Gott zu glauben, aber auch an die eigene Verantwortung, Gott dankbar zu sein…“
  5. Die persönliche Religiosität als Glaube an eine nicht näher zu beschreibende höhere Macht gilt für weitere 11% – „Es bedeutet für mich an etwas Höheres zu glauben. Ich bin der Meinung, dass ich für mich kein Gottesdienst und keine Kirche brauche damit ich gläubig sein kann“
  6. Für 5% der befragten Personen steht Religiosität für Werte und Normen – „Den christlichen Werten, die ja so in ihrer Grundbasis auch ähnlich sind zu anderen Religionen…nach denen so sein Leben ein bisschen ausrichten“

14% der Interviewten bezeichneten sich als gar nicht religiös.

Die TeilnehmerInnen wurden auch nach ihren persönlichen Mythen (Erklärung der Gegenwart aus der Vergangenheit, die Herleitung der persönlichen Orientierung und Werte aus dem was als wahr oder richtig angesehen wird), persönlichen Ritualen (Verhalten, das regelmäßig durchgeführt wird und in seiner Bedeutung über sich hinaus, auf eine grundlegendere Lebensbedeutung hinweist) und Transzendierungserfahrungen (beispielweise eine Begegnung mit einem Gott oder einer höheren Macht, kann nicht kontrolliert herbeigeführt werden und ist von kurzer Dauer) gefragt.

Der Inhalt der Interviews wurde dann analysiert; es ergaben sich jeweils unterschiedliche Kategorien bezüglich dieser 3 Themen, welche als typisch religiöse Denk-, Verhaltens- und Erlebensmuster gelten.

Zum persönlichem Mythos:

Der persönliche Mythos kann anhand der erwarteten Entwicklungsrichtung (optimistische oder pessimistische Lebenshaltung), dominanter Archetypen (z.B. Vorbilder), Lebensthemen und der Lebensaufgabe beschrieben werden.

  • Die Entwicklungsrichtung betreffend beschrieben:

– 34% der Befragten ihr Leben als konsistent positiv verlaufend;
– 38% gingen davon aus, dass es sich zum Besseren hin entwickele.
– 20 % hatten das Gefühl, dass mit der Zeit alles schlechter werde.
– 8% berichteten von einer permanenten negativen Gefühlslage.

  • Archetypen: Über ein Drittel gaben gar keine Vorbilder an,

– 14% bestimmten religiöse Autoritäten als ihr Vorbild,
– 11% nannten Sport oder Filmstars
– 9% gaben Familienmitglieder oder enge Freunde an.
– Weitere 9% nannten Politiker und 5 % Künstler und Intellektuelle.

  • Lebensthemen: Hier konnten 26 Lebensbedeutungen unterschieden werden, welche sich unter die Oberbegriffe: Transzendenzeinbindung [heute: vertikale Selbsttranszendenz], Verantwortung [heute: horizontale Selbsttranszendenz], Selbstverwirklichung, Tugend [heute: Ordnung] und Wir- und Wohlgefühl unterordnen lassen. Beispielsweise fällt unter Verantwortung: soziales und ökologisches Engagement, Naturverbundenheit, Generativität usw.
  • Zur Lebensaufgabe:  20 % gaben an, sie hätten keine.

– 46 % nannten eine, die als altruistisch zu bezeichnen ist.
– 14% gaben Selbstverwirklichung und
– 11% Selbstliebe, Liebe und Fürsorge an.
– 4% hatten eine explizit religiöse Lebensaufgabe und
– 7% konnten nicht genau sagen, was ihre Lebensaufgabe ist.

Es konnten viele Zusammenhänge der verschiedenen Elemente ermittelt werden. Einige davon werde ich folgend erläutern:

  • Die Wahrnehmung einer Lebensaufgabe geht mit einer optimistischen Einschätzung des Verlaufs der eigenen Lebensgeschichte einher.
  • Menschen, die eine Lebensaufgabe haben, weisen auch deutlich häufiger Vorbilder auf.
  • Hohe Werte auf jeder der fünf Sinndimensionen erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins einer Lebensgeschichte.
  • Eine Lebensaufgabe ist umso wahrscheinlicher vorhanden, je stärker eine Person ihre persönliche Religiosität einschätzt.
  • Auch eine positive Erwartung bezüglich der Entwicklung des Lebensverlaufs geht mit hoher persönlicher Religiosität einher.

Persönliche Rituale:

Es konnten folgende Arten von persönlichen Ritualen identifiziert werden:

  • Gemeinschaftsrituale (z.B. gemeinsames Ausgehen, Telefongespräche, Einladung zum Essen). 80% berichteten von mindestens einem Gemeinschaftsritual.
  • Übergangsritual: z.B. Übergang vom Schlafen zum Erwachen, vom Arbeitsleben in die Freizeit oder auch biographische Rituale wie Geburtstage). 66% der Befragten berichteten hiervon.
  • Rituale sozialen Engagements: z.B. Nachbarschaftsbesuche, politische Aktivitäten, Gremienarbeiten in Vereinen. Die Hälfte aller Befragten gab an, solche Rituale auszuüben.
  • Wellness-Rituale: z.B. Wannenbäder, Tanzen, Sport oder Fitness. 42% üben regelmäßig solche Rituale aus.
  • Besinnungsrituale, beziehen sich auch auf den explizit religiösen Bereich wie beispielsweise Meditation, Gebet, Yoga. Ein Drittel aller Befragten führt solche Rituale aus.

Es zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen Ritualen und Lebensaufgabe: Je mehr persönliche Rituale eine Person ausübt, umso wahrscheinlicher ist es, dass diese eine Lebensaufgabe wahrnimmt

Je mehr persönliche Rituale ausgeübt werden, desto positiver sind die Erwartungen, die die Personen bezüglich der Zukunft hegen.

Jene Menschen üben die meisten persönlichen Rituale aus, die dem Wir-und Wohlgefühl viel Bedeutung zuweisen.

Die Häufigkeit von Übergangsritualen hängt mit der Höhe der persönlichen Religiosität zusammen.

Transzendierungserlebnisse:

Hier konnten 5 Kategorien von einander unterschieden werden:

  1. Selbstvergessenheit: alle berichteten von solchen Erlebnissen.
  2. Einheitserlebnisse: 63% der Befragten hatten bereits Einheitserlebnisse.
  3. Außersinnliche Wahrnehmungen 64% der Interviewten erzählten davon.
  4. Wunder: 33% berichteten von einer solchen Transzendierungserfahrung.
  5. Visionen/Erleuchtungen: 30% der befragten Personen beschrieben solche Erlebnisse.

Je mehr Transzendierung eine Person erlebt, desto eher hat sie eine Lebensaufgabe und nimmt einen positiven Entwicklungsverlauf ihres Lebens an.

Der gottgläubige Mensch ist am deutlichsten durch die hohe Bedeutung charakterisiert, die er den Sinndimensionen Transzendenzeinbindung zumisst,

während Menschen, die ihre persönliche Religiosität als Urvertrauen beschreiben, sich am häufigsten an Vorbildern orientieren.

Sie üben häufig Wellnessrituale aus und weisen eine hohe Offenheit für das Übersinnliche auf.

Wird Religiosität als Kontingenzbewältigung verstanden, werden besonders viele Rituale ausgelebt, vor allem Übergangsrituale.

Menschen die sich keinerlei persönliche Religiosität zuschreiben, haben keine Lebensaufgabe und gehen eher davon aus, dass das Leben sich zum Negativen hin verändert

Sie üben weder Gemeinschaftsrituale noch Übergangs- oder Rituale sozialen Engagements aus.

Sie erfahren weniger Transzendierungserlebnisse.

Auf allen Sinndimensionen außer der Tugend weisen sie unterdurchschnittlich Werte auf.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der implizit (persönlich) religiöse Mensch davon ausgeht, dass sein Leben einen positiven Verlauf nimmt; er hat eine Lebensaufgabe und orientiert sich häufig an Vorbildern. Er schöpft Sinn aus den Bereichen Verantwortung, Transzendenzeinbindung, Selbstverwirklichung oder Wir-und Wohlgefühl. Er übt viele persönliche Rituale aus, vor allem Rituale sozialen Engagements und Besinnungsrituale. Er erfährt  häufig Transzendierungerlebnisse.

Eine nicht explizit christliche Religiosität wird häufig als sinnvoller erlebt als eine explizit christliche Religiosität.

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