Caroline Aricochi: „Aber mein Ziel sollen nicht diese Spuren sein…“

Das Ende gleicht dem Anfang. Wer einen verblühten Löwenzahn in der Hand hält, kann ihn kaum von einem unterscheiden, der seine Blüte noch vor sich hat. Auch wenn dazwischen eine beeindruckende Metamorphose liegt. Ganz ähnlich verhält es sich mit einem Menschenleben, mit jeglicher Form des Lebens. Das Leben entsteht aus dem Nichts und endet mit dem vermeintlichen Nichts. Diese beiden Stadien des Nichts sehen sich zum verwechseln ähnlich und doch steckt so vieles dazwischen. Eine Zeit voller Veränderungen, voller Mühen, Anstrengungen, Ärger, Trauer, aber auch Freude, Glück, Liebe, Gemeinschaft, eine Zeit voller Leben. Doch dieses ganze Leben wird durch einen Atemzug ausgelöscht, nichtig gemacht, durch einen einzigen, letzten Atemzug: durch den Tod. Der Tod bringt jedes Lebewesen zurück zu seinen Anfängen. Der Tod beendet das Leben und somit alle Veränderungen, Mühen, Anstrengungen, allen Ärger, Trauer, aber auch alle Freude, das Glück, die Liebe und die Gemeinschaft. Was zurück bleibt ist das Nichts, eine Lücke und somit anscheinend nicht mehr, als vor Beginn des Lebens da war.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, scheint das Leben völlig frei von jeglichem Sinn. Ein endloses Rad, das immer von vorne beginnt. Das Nichts, aus dem Leben entsteht, welches dann wieder zum Nichts wird. Ein möglicher Ausweg aus dieser vermeintlich sinnlosen Reise wäre die Religion, der Glaube an ein Leben nach dem Tod. Doch gibt es nur diese beiden Möglichkeiten: die Religion oder ein Leben ohne Sinn? Meiner Meinung nach muss das nicht so sein. Denn es gibt mindestens so viele Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, wie es Menschen gibt. Nicht nur Philosophen und Psychologen haben sich im Laufe der Geschichte Gedanken darüber gemacht. Ich wage es zu behaupten, dass jeder Mensch die Frage nach dem Sinn des Lebens mindestens einmal in seinem Leben gedanklich gestreift hat. Für mich persönlich ist ein entscheidender Punkt, ja der grundlegende Unterschied zwischen Anfang und Ende, die Lücke, die nach dem Tod eines Menschen entsteht. Es mag zwar stimmen, dass vor Beginn eines Lebens das Nichts da war, welches am Ende des Lebens wieder auftaucht, jedoch mit einem alles bestimmenden Unterschied. Nach dem Tod eines Menschen entsteht eine Lücke. Der Tod entreißt der Welt ein Lebewesen, der Mensch haucht zwar das Leben aus, aber er hinterlässt mehr als ein Nichts. Der Tod hinterlässt zunächst Schmerz und Trauer, oft auch Wut und Fassungslosigkeit, vor allem wenn dieser vermeintlich zu früh eintritt. Aber er hinterlässt auch Liebe, Glück, Erinnerungen, bleibende Veränderungen in der Welt. Der Tod hat zwar die Macht das Leben auszulöschen, aber nicht die Spuren eines Lebens.
Bereits ab dem Moment, wo sich ein Individuum dieser Tatsache bewusst wird, erhält das Leben einen Sinn. Dieser anscheinend so kleine Unterschied zwischen dem Nichts und einer Lücke macht, meiner Meinung nach, den entscheidenden Unterschied bei der Betrachtung des Lebens. Mit diesem Hintergrund können viele Lebensziele und –aufgaben viel weniger sinnlos erscheinen. Egal ob es um hedonistische oder soziale Ziele geht, ob es die Lebensaufgabe eines Menschen ist, die Familie über Wasser zu halten oder Macht und Reichtum für sich selbst anzuhäufen, ob jemand Krebs heilen möchte und somit die Welt verändern oder ob er den Einfluss auf das nähere Umfeld beschränkt (um dort Liebe oder auch Hass zu verbreiten); jeder Mensch hat es, bis zu einem gewissen Punkt, selbst in der Hand, wie die Lücke, die bleibt, ausschauen wird. Diese Freiheit, selbst zu entscheiden, welche Spuren wir auf der Erde hinterlassen möchten, beinhaltet eine riesige Verantwortung, vor der wir uns nicht verstecken können. Denn in all unserem Tun beeinflussen wir nicht nur unsere eigene Existenz, die (vermutlich) ohnehin wieder verschwindet, sondern vor allem die Welt, in der wir leben. Jean-Paul Sartre (1968) schrieb dem Menschen die totale Verantwortung über sein eigenes Handeln zu, er war der Überzeugung, dass der Mensch dazu verurteilt sei, frei zu sein und er allein die Macht habe, etwas aus sich zu schaffen. Diese Freiheit, so Sartre, sei aber nicht nur ein Geschenk für den Menschen, sondern diese Verantwortung löse vor allem Angst aus. Dieser existentialistische Standpunkt Sartres zum Sinn des Lebens gleicht nur zum Teil dem meinen. Zum einen glaube ich, dass diese Freiheit sehr wohl (durch äußere Lebensumstände) begrenzt ist und zum anderen, dass diese Freiheit (auch wenn ich sehr wohl verstehe, dass sie Angst machen kann), ein Geschenk ist, das es sich so gut wie möglich zu nutzen lohnt. Sartres Standpunkt und mein eigener teilen jedoch ein Problem: wir diskutieren über den Sinn und die Freiheit des Lebens aus einer privilegierten Lage, in der wir uns nie ernsthafte Sorgen über das Fortbestehen unserer Existenz machen mussten, einer Lage, in der wir uns nie Gedanken darüber machen mussten, ob wir am nächsten Tag etwas zu essen hätten. Ich finde es problematisch über den Sinn des Lebens fachzusimpeln und über eine grenzenlose Freiheit zu reden, ohne eine Vorstellung davon zu haben zu können, welch großes Leid und unüberbrückbaren Grenzen es auf der Welt gibt. Dennoch finde ich es wichtig, sich Gedanken über das Leben und seinen Sinn zu machen. Vor allem in unserer westlichen Gesellschaft, die vor Überfluss strotzt, und der Alltag nicht durch den reinen Erhalt der eigenen Existenz ausgeschöpft ist, werden viele Menschen von dem Gefühl der Sinnlosigkeit geplagt. Frankl (1985) spricht von einem existentiellen Vakuum oder der noogene Neurose. Auf dieser Grundlage hat er seine Logotherapie entwickelt, bei welcher er den Menschen zu helfen versucht, einen Sinn in ihrem Leben zu finden. Auch ich persönlich bin der Überzeugung, dass die Sinnfindung im eigenen Leben die Grundlage jeder erfolgreichen Psychotherapie ist. Denn, wie bereits Nietzsche sagte (und sich Frankl später zum Leitsatz machte), „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“ (Frankfurter Allgemeine, Feuillton). Die Sinnfrage sollte einen wichtigen Platz in vielen Bereichen der Psychologie einnehmen. Nur wer sich Gedanken über den Sinn des eigenen Lebens gemacht hat, kann eine Idee davon haben, welche Richtung dieses einnehmen sollte. Somit sollte zumindest die Frage nach dem Sinn und den Zielen im Leben des Patienten einen Platz in der Psychotherapie finden. Diese Frage muss auch nicht beantwortet werden, aber es sollte Raum dafür geschaffen werden und der Therapeut sollte den Patienten dabei unterstützen, herauszufinden, was für ihn persönlich wichtig ist. Meiner Meinung nach ist die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch in der Arbeits- und Organisationspsychologie (oder der Bildungsberatung) ein wichtiger Bestandteil. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Mensch eine Arbeit nur dann mit Begeisterung ausüben kann, wenn diese Kohärent mit den eigenen Zielen und somit mit dem persönlichen Lebenssinn ist.

Dass ich selbst diese Aufgabe zur Sinnfindung meines Lebens bereits erfolgreich bewältigt habe, will ich nicht behaupten, denn diese Frage wird mich wahrscheinlich mein Leben lang begleiten. Einzig und allein weiß ich, dass ich Spuren hinterlassen möchte, aber keine Spur der Zerstörung, sondern Freude, Glück, Liebe und Freundschaft. Aber mein Ziel sollen nicht diese Spuren sein, sondern der Weg, auf dem ich eben dies erleben möchte, was ich zu hinterlassen wünsche.
Literaturverzeichnis
Frankl, V. E. (1985). …trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (2. Auflage). München: Kösel.
Sartre, J.P. (1968). Drei Essays: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Materialismus und Revolution. Betrachtungen zur Judenfrage. Frankfurt am Main: Ullstein.

Internetquellen
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-hinweis-11323629.html , zuletzt abgerufen am 27.02.2017

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