Glaube und Psychopathologie

A: Hattest du schon einmal einen Moment in deinem Leben, als dir jemand sagte, du solltest an dich glauben, einen Moment also, in dem dir jemand durch diese Worte Hoffnung und Mut gab? Lass uns mal über die Funktion solch eines Glaubens nachdenken! Bringt also das Glauben nicht immer etwas Positives mit sich, eine Art Vertrauen und Zuversicht?

B: Du meinst, dass man in Folge seines Glaubens (an sich selbst) seine Handlungsmöglichkeiten weiter wahrnimmt und nicht verzagt? Ich weiß nicht. Kann man nicht etwas glauben, was einem emotional und motivational eher zusetzt, als dass es einem Hoffnung und Antrieb gibt? Ich denke da zum Beispiel an einen angstvollen, die Aktivität lähmenden Glauben an einen kommenden Krieg oder Ähnliches, also an jemanden, der resigniert.

 A: Wenn ich genau darüber nachdenke, muss ich mich auch selbst revidieren. Ich kann ja auch an die Hölle glauben und mich vor ihr fürchten. Aber andererseits kann man sogar diesem Glauben etwas Positives abgewinnen. Nämlich in seiner Funktion, den Handlungsraum zu strukturieren und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Menschen, die sich vor der Hölle fürchten, könnten versuchen weniger zu sündigen und mehr Gutes zu tun. Ein Glaube bringt also Orientierung, ermöglicht dem Menschen sich mit Blick auf zukünftige Handlungen sinnvoll auszurichten.

B: Ich verstehe, auf was du hinaus möchtest. Die Funktion des Glaubens einen Handlungsraum und somit potentielle Handlungsoptionen aufzuzeigen ist natürlich positiv zu sehen. Dein Beispiel geht mir aber noch nicht weit genug. Ich bezweifle nämlich, dass ein Glaube diese Funktion in jedem Fall erfüllen kann. In deiner Geschichte bleibt der Mensch Akteur, bzw. steht das Agieren nie außer Frage. Aber muss das immer so sein? Kann ein an einen drohenden Krieg Glaubender nicht aufgrund wahrgenommener Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit in eine Depression fallen? Bis auf das Symptom der Agitiertheit würde ich eine Depression nicht als etwas betrachten, was einem in einer Weise Antrieb verschafft. Außer vielleicht Antrieb zum Suizid, ohne zynisch klingen zu wollen. Glaube kann eben sogar zerstörerisch sein.

A: Auch da muss ich dir wiederum doch zustimmen. Das erinnert ja stark an erlernte Hilflosigkeit. Dazu fällt mir ein weiteres Beispiel ein. Man denke an einen Ausländer, der sich permanenter Stereotypisierung ausgesetzt sieht. Wenn er das Vorurteil des kriminellen Ausländers introjiziert, das heißt, als kognitives Schema in sich aufnimmt, wird sich das bestimmt negativ auf sein Selbstkonzept und seinen Selbstwert auswirken. In einer Art und Weise glaubt er dann, dass die Gruppe der Ausländer, und mit dieser er selbst, nur Ärger macht. Bei so einer Orientierung würde natürlich auch ich nicht mehr von einer positiven sprechen.

B: Was ich deiner Vorstellung von der Funktion des Glaubens abgewinnen kann ist, dass sie den Handlungsraum konkretisiert und Handlungsoptionen aufzeigt. Durch seine Fähigkeit zu glauben wo kein Wissen ist, bleibt der Mensch sehr lange ein agierendes Wesen. Vielleicht könnte man sogar sagen, er bleibt im negativsten Falle sogar so lange aktiv, bis er sich selbst zerstört hat. Positiv ist diese Funktion dann jedoch nur in dem Sinne, dass der Mensch nie nicht agiert. Menschsein heißt, sich zu positionieren.

A: Dann sind wir uns ja mal einig. Aber was ist jetzt mit deinem Beispiel von vorhin? Du hast doch schon die Resignation angesprochen. Was ist mit den Fällen totalen motivationalen Verlustes? Neben den Suizidal-Depressiven kann man ja auch von jenen anderen Depressiven ausgehen, die durch fehlende Aktivität verwahrlosen. Sind das dann Menschen, die jeglichen Glauben verloren haben? Das meinte ich mit erlernter Hilflosigkeit. Vielleicht hat Glauben doch noch mehr mit Hoffnung zu tun, als wir durch unsere Beispiele zu entkräften glaubten. Beim suizidalen Depressiven ist es die Hoffnung auf ein Ende des Leids durch Selbstzerstörung. Jener, der Hilflosigkeit „erlernt“ hat, hat einfach keinen Glauben mehr an seine Handlungen. Er ist dann ohne Glauben hoffnungslos verloren und verwahrlost infolge des Einstellens jeglicher Handlungen.

B: Darf ich resümieren? Glaube geht deiner Ansicht nach immer mit Hoffnung einher, bei einem suizidal-depressiven Menschen in der Art, dass er die Hoffnung im Tod sieht. Der Glaube und die Hoffnung beziehen sich dabei auf ein besseres Leben nach dem Tod? Oder meinst du, der Glaube bestünde darin, dass die suizidale Person auf ein „Ende von Allem“ hofft?

A: Ich denke, beides ist möglich. Es kommt mir auch gar nicht so sehr auf den Inhalt des Glaubens an. In beiden Fällen wird geglaubt. Darum geht es. Es geht um das psychische Phänomen des Glaubens an sich, also des Glaubens als mentaler Leistung. Unabhängig vom Inhalt geht doch das Gleiche in den Köpfen vor. Wer weiß, vielleicht finden Neurowissenschafter bald ein „Glaubenszentrum“ im Hirn, welches sich Juden, Moslems, Christen, aber auch zum Beispiel Akteure am Finanzmarkt teilen?

B: Da bin ich ganz bei dir! Diesen Schritt, weg von der Akzentuierung des Glaubensinhalts, hin zur Untersuchung des Glaubensprozesses an sich, halte ich für einen wissenschaftlich sehr wertvollen. Wenn ich mich recht erinnere, zog sich dieser Gedanke ohnehin durch unsere gesamte Diskussion, nicht? Zum Beispiel im Aspekt der Hoffnung, als eine Art Zweck des Glaubens für das Individuum. Lass uns das hiermit noch einmal explizit festhalten! An einem anderen Punkt möchte ich aber noch einmal einhaken. Du argumentiertest, dass Glaube immer mit Hoffnung einhergeht, und dass suizidal-depressive Menschen glauben, sie könnten sich durch Selbstmord erlösen, was sozusagen ihre Hoffnung wäre. Ich plädiere da für eine andere Sichtweise. Ich sehe das so, dass Glauben an sich nicht gleichbedeutend ist mit Hoffnung schöpfen. Dieser mögliche positive Aspekt der Creditionen ist nämlich nur eine Seite der Medaille. Der Gegenpol zur Hoffnung ist nämlich nicht die Hoffnungslosigkeit, sondern die Befürchtung. Denn genau so gut wie ich auf anhaltenden Frieden hoffen kann, kann ich einen Kriegsausbruch befürchten.

A: Stopp! Was bitte ist eine Credition?! Sag mal! Hast du dich mit diesem Thema etwa schon einmal ausgiebiger befasst?

B: Ja, irgendwie schon. Ich habe mich im Zuge meines Praktikums im Bereich der Sinnforschung einmal mit Creditionen auseinandergesetzt. Meine Aufgabe war es, zum Thema Glauben einen Dialog zwischen zwei fiktiven Personen zu entwerfen. Wie man vielleicht bereits merken konnte, hat mich damals besonders das Thema der psychischen Störungen interessiert.

A: Und was sind jetzt diese ominösen Creditionen?

B: Der Begriff wurde geprägt durch einen österreichischen Theologen. Er soll den Prozess und/oder das Produkt des Glaubens bezeichnen. Ich stelle mir das folgendermaßen vor: eine Credition ist ein Denkinhalt, der, wenn durch hohe subjektive Sicherheit und durch hohe affektive Involviertheit charakterisiert, dem Glaubenden Hoffnung oder Befürchtung beschert. Das bedeutet, dass ich Creditionen als modifizierte Kognitionen betrachte, in dem Sinne, dass sich an einen bloßen Denkinhalt Emotionen angeheftet haben. Wenn ein Mensch die Relevanz eines Denkinhalts für sein Handeln entdeckt, berührt ihn das auf der Ebene der Affekte, der Emotionen und der Stimmungen. So können am Verstand orientierte Kognitionen zu an der Intuition orientierten Creditionen werden. Es geht also um „reine“ Kognitionen in Form objektiver, wertfreier Denkinhalte auf der einen Seite und um gefühlvolle, also mit Valenz belegte Kognitionen auf der anderen Seite. Diese letzteren, mit Hoffnung oder Furcht bestückten Kognitionen, verstehe ich als „Creditionen“.

A: Ich wusste, dass du der Richtige bist, um über das Thema Glauben zu sprechen! Erzähl doch mal etwas über den Zusammenhang zu psychischen Krankheiten.

B: Gerne. Für die Psychopathologie bedeutet das in meinen Augen, dass bei einer Imbalance zugunsten von Creditionen über Kognitionen psychotische Symptome wie Wahn entstehen können. Dass Creditionen entweder mit Hoffnung oder Furcht zu tun haben, müsste konsequenterweise zu unterschiedlichen Arten des Wahns führen. Und tatsächlich gibt es sowohl den Liebeswahn, als auch den paranoiden Wahn, welche ich mit je einer Seite der „Medaille des Glaubens“ in Zusammenhang bringen würde.

A: Lass mich das einmal weiter spinnen. Vielleicht sind die Rationalisierung und das magische Denken Operatoren der beiden Systeme der Kognitionen und der Creditionen. Der Rationalisierung könnte die Funktion des affektiven Entschärfens zukommen, also emotional bedrohliche Creditionen zu versachlichen. Magisches Denken hingegen könnte im Dienste der Creditionen stehen, und zwar mit der Funktion, sachlich-unpersönliche Kognitionen in persönlich bewegende Elemente zu überführen. Beide Operatoren arbeiten dann im Sinne des Wohlbefindens an einer Homöostase von rationalen, wertfreien Urteilen und persönlichen, emotional eingefärbten Creditionen. Der ausbalancierte Mensch ist dann sozusagen der symptomfreie Mensch.

B: Ja, genau! Und vielleicht verursacht das andere Extrem homöostatischen Ungleichgewichts, also das Dominieren „reiner“ Kognitionen die Neurosen,…

A: … mit ihrem ich-dystonen Charakter! Das passt doch gut ins Bild. Der Neurotiker ist ja gequält davon, sich mit Gegenständen, Dingen, Sachen befassen zu müssen. Ich meine damit die typische Zwangshandlung. Oder anders gesagt, dieser Neurotiker lässt sich von der Welt der unbelebten Dinge dominieren. Da er nichts „glaubt“, muss er ständig Hand anlegen, braucht den sinnlichen Kontakt um etwas fühlen zu können. Ich denke da an eine Person, die zwanghaft überprüft, ob sie ihre Wohnungstür auch tatsächlich verschlossen hat. Sie kann nicht glauben und vertrauen, muss deshalb ständig kontrollieren.

B: Ironischerweise hat diese Person es mit der Furcht zu tun – und das ganz ohne Glauben.

A: Wir hatten heute schon einmal mit unterschiedlichen Interpretationen desselben Phänomens zu tun. Erinnerst du dich? Glaubt der Depressive, oder glaubt er eben nicht (mehr)? Glaubt der Neurotiker wirklich nichts? Oder glaubt er vielleicht doch, und zwar, dass etwas Schreckliches passiert, wenn er nicht kontrolliert?

B: Ja, vielleicht drehen wir uns wirklich im Kreis. Zum Glück dürfen wir Herrn Professor Angel ein paar Fragen zum Thema Creditionen stellen.

Fragen an Herrn Professor Angel:

Frage 1: Hängen inhaltliche Denkstörungen (Verfolgungswahn, Liebeswahn), wie sie z.B. bei der Schizophrenie auftreten, mit Phänomenen des Glaubens zusammen?

Antwort:

Hier müsste man vorab klären, was alles aus welchen Gründen unter dem Label „Störung“ (und auch, was alles unter „Wahn“) erfasst werden soll. Pathologische Phänomene, wie etwa Wahnvorstellungen, sind seit langem Gegenstand neurowissenschaftlich-empirischer Forschungen. Dabei wurde erkennbar, dass „Glauben“ häufig eine Rolle spielt – oft auch ein solcher Glauben, der real oder vermeintlich einen Bezug zur Welt des Religiösen hat. Eine solche Verwobenheit von Glauben mit pathologischen Erscheinungen kann leicht zur Auffassung führen, „Glaubensvorgänge“ insgesamt seien eher dem Bereich der Pathologie zuordnen. Das ist allerdings zu kurz gegriffen. Wenn man sich die Komplexität creditiver Vorgänge vor Augen führt ist nicht erstaunlich, dass Denkstörungen den Glaubensvorgang beeinflussen. Wie sollte das auch anders sein? Von Störungen ist insbesondere jener Aspekt betroffen, den wir im Rahmen des Creditionen-Modells als „modulator function“ bezeichnen. Das betrifft allerdings jede Art von „Störung“ (z.B. Entwicklungs- oder Wahrnehmungsstörungen, Störungen der Emotionsregulierung, der Gedächtnisfunktion, oder auch Traumatisierung) „normaler“ Vorgänge. Meine Hypothese ist, dass pathologische Störungen in doppelter Weise mit Creditionen zusammenhängen können – je nachdem, welcher Art die Störung ist: (a) Pathologisch bedingte Störungen beeinflussen die „normalen“ Vorgänge von Wahrnehmung, Motivation, Handlungsvorbereitung usw. und implementieren damit „gestörte (oder verzerrte)“ Momente in den creditiven „Ablauf“, die sich an unterschiedlichen „Stellen“ des Glaubensvorgangs (auch entlang der Zeitachse) bemerkbar machen. (b) Falls die Störungen hingegen die Funktion (im Sinne: believing as brain function) von Abläufen betreffen, könnte es auch zu funktionellen Verschiebungen im Glaubensvorgang selbst kommen. Es ist vielleicht noch etwas zu früh, auf die gestellte Frage schon Antworten zu geben, die auf dem Creditionen-Modell basieren. Deswegen formuliere ich vorsichtig, dass ich mir vorstellen könnte, dass etwa Schizophrenie eher dem Punkt (b) zuzuordnen wäre, während die Entstehung von Schizotype vielleicht eher zu Punkt (a) passen würde. Aber das sind nur vage und vorläufige Versuche, aus dem Modell Schlussfolgerungen zu ziehen, die zu Ihrer Frage passen. Ich tendiere allerdings insgesamt eher zur Auffassung, dass wir es mit vielfach interdependenten zirkulären Vorgängen zu haben und die genannte Trennung eine künstliche ist, die vielleicht analytisch (oder vielleicht auch klinisch) bis zu einem gewissen Grad hilfreich ist.

Frage 2: Ist erlernte Hilflosigkeit eine Sache des Glaubens?

Antwort:

Nicht nur, aber auch. Erlernte Hilflosigkeit ist „auch“ eine Sache des Glaubens. Das betrifft vor allem das, was wir als „stabilizer function“ bezeichnen. Unter diesem Aspekt versuchen wir, den Verarbeitungsvorgang zu erfassen, der aus fluiden Mustern strukturelle Stabilisierungen aufbaut.

Frage 3: Was unterscheidet eine „blutleere“ Credition von einer Kognition? Inwiefern handelt es sich also bei einer „rationalen“ Credition um etwas anderes als eine reine Proposition?

Antwort:

Wenn wir davon ausgehen, dass Creditionen als Prozesse verstanden werden, dann wird in der gestellten Frage das Wort „blutleer“ bzw. „rational“ auf einen mentalen bzw. kognitiven Vorgang angewandt. Damit ist aber die Frage in dieser Form nicht wirklich zu beantworten. Aber vielleicht haben Sie mit dieser Frage intuitiv einen ganz wichtigen Aspekt erfasst, der es wert ist, genauer beleuchtet zu werden. Deswegen hole ich ein wenig, in der Hoffnung, dass das interessant ist.

Zunächst müsste die sprachliche Formulierung genauer durchleuchtet werden.

  • Zunächst zum Wort „rational“. Das ist ein nicht unproblematischer Ausdruck, der im Gefolge der Aufklärung Karriere machte. Er ist vom lateinischen „ratio“ hergeleitet und wird im Deutschen heute meist (und gegenüber der ursprünglichen semantischen Wortbreite verengt) als „Vernunft“ übersetzt. Vernunft wurde ein führendes Konzept und der Rationalismus eine mächtige Strömung. Aus creditiver Perspektive haben wir hier ein Problem. Vernunft ist nämlich kein Prozess! Man kann nicht „vernunften“. Diese „Quasi-Stabilität“ des Vernunftbegriffs führte im Verlauf der Geistesgeschichte zu eigenartigen Vorstellungen: „vernünftig“ bekam den Beigeschmack, das Gegenteil von „emotional“ zu sein – nach dem Motto: wer vernünftig handelt, lässt sich nicht von seinen Gefühlen leiten. Diese Auffassung hat Auswirkungen bis hinein in „rationale“ Entscheidungstheorien (rational choice theories) und sie liegt dem in der Wirtschaftswissenschaft bis vor kurzem dominierenden „homo oeconomicus-Modell“ zugrunde. Das Modell ging von der Annahme aus, der Mensch als wirtschaftliches Wesen handle – unter eingrenzbaren Wettbewerbsbedingungen – immer rational zugunsten seines eigenen Vorteils. Die Wirtschaftswissenschaft ist gerade dabei, „homo oeconomicus“ zu Grabe zu tragen. So einfach ist es eben nicht, auch wenn sich manche Klassen von ökonomischen Problemen damit erfassen lassen.
    • Schon die antiken Philosophen, insbesondere auch Platon und Aristoteles, beschäftigten sich intensiv mit dem Verhältnis von „Vernunft“ und „Gefühl“. Das ist eine spannende Geschichte. Allerdings meinte in der antiken lateinischen Vorstellung „ratio“ auch das, was wir heute als „planmäßiges Handeln“ bezeichnen. Doch was steht hinter einem „Plan“? Wenn man auf das Griechische zurückgeht, wäre der Ausdruck „lógos“ noch umfassender als „ratio“. Man kann „lógos“ im Deutschen als „Wort“, als „Vernunft“, als „Geist“, ja sogar als „göttlichen Ursprung allen Seins“ übersetzen (en archè èn ho lógos).
    • In der Aufklärung wurde „ratio“ ferner auch als Gegenbegriff zu „superstitio“ (zu Deutsch: „Aberglaube“) verwendet. Pikanterweise existiert „Aberglauben“ ebenfalls nur als Substantiv. „Aberglaube“ ist nicht in prozessuale Konzepte integrierbar. Sie werden sicher niemanden fragen: „Warum aberglaubst Du immer wieder?“ Allerdings hatte diese Thematik eine problematische Nebenfolge: „ratio“/“Vernunft“ bekam teilweise auch einen anti-religiösen Affekt. Das Verhältnis von „Religion“ – „Vernunft“ – „Aberglauben“ – „Emotionen“ bzw. „Gefühle“ wäre ein weites Thema, das zutiefst mit der heute wieder aufflammenden Diskussion um die Bedeutung der Religionen zu tun hat. Allerdings lässt es sich auf statisch-substantivischer Ebene (die „Religion“, der „Glaube“, die „Vernunft“) nicht adäquat erfassen, da es immer auch darum geht, in welcher Weise im Menschen bestimmte Vorgänge ablaufen.
    • In der berühmten Formulierung von René Descartes „cogito ergo sum“ wird die Konstitutionsbedingung des Selbst aber auf „cogitare“ (was gerade nicht gleichbedeutend ist mit „ohne Emotion“!) festgelegt. In der Formulierung von Immanuel Kant heißt es gar: „Sapere aude!“ – meist übersetzt: „Wage Dich Deines Verstands zu bedienen“. Doch das Verb „sapere“ heißt nicht einfach „logisch denken“ sondern ist viel ganzheitlicher zu verstehen: als „verstehen“, „begreifen“. Das zu „sapere“ gehörige Substantiv heißt „Sapientia“ (Weisheit).
  • Dann zum Wort „blutleer“. Das Wort ist ein Bild bzw. eine Metapher. Wozu dient sie? Ich denke, sie soll darauf hinweisen, dass sich „Gefühle“ (also Emotionen, die dem bewussten Erleben zugänglich sind) in ihrer Intensität unterscheiden können. Diese Erfahrung kennen wir alle. Doch gerade deswegen kann ich die Metapher nur bedingt auf Kognition, und noch weniger auf „Credition“ beziehen, da das Modell der Creditionen davon ausgeht, dass Kognition, Emotion und Credition untrennbar interdependent verbunden sind. Wir sprechen von der Kognition-Emotion-Credition-Triade (KEC-Triade). Doch um Ihrer Intuition zu folgen möchte ich nun probeweise den Versuch machen, „blutleer“ auf Creditionen zu beziehen, allerdings nicht auf Creditionen als Ganzes, sondern auf die „Grundeinheit“ eines Glaubensprozesses, die wir als „Bab“ bezeichnen. Was ist ein Bab als creditive Grundeinheit? Das kann ich hier nur kurz skizzieren, ausführlichere Informationen finden Sie in der Literatur, die auf unserer Forschungs-Website angegeben ist (http://credition.uni-graz.at/).
    • Da kognitive und emotionale Prozesse teilweise im lateral-präfrontalen Kortex integriert sind und neuronale Aktivitäten im lateral-präfrontalen Kortex durch affektive Variable beeinflusst werden können, haben wir das Konzept „Bab“ in das Creditionen-Modell eingeführt. Der Ausdruck „Bab“ wird verwendet, um die „Gleichzeitigkeit“ eines kognitiv-propositionalen Moments mit seiner emotionalen Verankerung in Worte zu fassen. Damit wird Weg vorgeschlagen, der gerade auf die zumindest partielle „Untrennbarkeit“ von Emotion und Kognition aufbaut.
    • Würde ich also „blutleer“ auf „Bab“ als die „Grundeinheit“ eines Glaubensprozesses beziehen, dann würde ich damit vielleicht ausdrücken wollen, dass dieser „Bab“ aktuell wenig Einfluss auf den gesamten creditiven Bewertungsvorgang nimmt.

Von daher könnte ich mir vorstellen, dass Ihre Frage intuitiv gerade diese prekäre Thematik erfasst hat. Doch auf den gesamten Ablauf von Creditionen lässt sich weder „blutleer“ noch „rational“ beziehen, da creditive Prozesse immer auch von Emotionen und inneren Bewertungsprozessen beeinflusst sind.

 

Autor: Daniel Purtscheller; Kommentare: Prof. Dr. Hans-Ferdinand Angel

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